Er kam als Flüchtling nach Holland. Massoud Hassani war 9 Jahre alt, als er mit seiner Mutter, seinem Bruder Mahmud und den zwei Schwestern aus der afghanischen Hauptstadt Kabul über die Grenze nach Pakistan geschmuggelt wurde. In Afghanistan bekämpften sich damals Warlords. Massouds Vater war bei einem Raketenangriff im Zentrum von Kabul getötet worden. Die Mutter sah keine andere Wahl, als das Land mit ihren Kindern zu verlassen. Nach Streifzügen durch Pakistan, Tadschikistan und Usbekistan erreichte die Familie schließlich Westeuropa. Das niederländische Maastricht wurde ihre neue Heimat.
Zwanzig Jahre später präsentiert Massoud Hassani als Absolvent an der Design Academy in Eindhoven ein Geschenk an seine afghanische Kindheit – den Mine Kafon, wie er sein Gerät nennt: ein mit Windkraft angetriebener Landminen-Räumer.
Der Mine Kafon (Kafon ist Dari und bedeutet Explosion), hergestellt aus Bambus, Gummi, Kunststoff und Metall, sieht aus wie eine große, leichte Kugel, geformt aus Dutzenden Stelzen. Fast wie eine Pusteblume. Das Gerät erinnert an die selbstgebastelten – allerdings viel kleineren – Spielzeuge aus Papier, die Massoud und seine Freunde damals, am Rande der Wüste nördlich von Kabul, vom Wind wegtragen ließen.
"Die Wüste war unser Spielplatz. Sie lag nicht weit von einem Militärflughafen", erzählt Hassani in einem Café in Amsterdam. "Das Terrain war von Landminen und anderen Sprengsätzen infiziert, weil dort jahrelang Soldaten trainierten und das Zeug zurückließen."
Als Kind musste Hassani zusehen, wie einige von seinen Kameraden von Landminen schwer verletzt oder sogar getötet wurden. Der Gedanke, dass dank seiner Erfindung möglicherweise weniger Menschen Landminen zum Opfer fallen werden, treibt ihn an. "Aber ich bin schon dankbar dafür, dass der Mine Kafon Schlagzeilen in den Medien macht, und zwar nicht nur in Holland. Damit bekommt der Kampf gegen Landminen neue Aufmerksamkeit. Lange wurde ja kaum noch darüber gesprochen."
20.000 Menschen
Die Vereinten Nationen schätzen, dass mehr als 110 Millionen Landminen in mehr als 70 Ländern Menschen bedrohen. Die Räumung ist aufwändig, langwierig und gefährlich. Jährlich sterben zwischen 15.000 und 20.000 Menschen nach der Explosion einer Mine. Betroffen sind zumeist Zivilisten, mehrheitlich Frauen und Kinder.
Minen sind oft billig, ihre Produktionskosten betragen teilweise kaum mehr als drei Euro. Sie zu beseitigen ist teuer, im Schnitt kostet das bis zu 1.000 Euro pro Exemplar. Und die Risiken sind erheblich: Auf 5.000 geräumte Minen kommen ein getöteter und zwei schwer verletzte Minenräumer, besagen die Statistiken.
Massoud Hassanis Mine Kafon – wenn in Massenproduktion hergestellt – würde nur 40 Euro pro Stück kosten. Seine Einzelteile lassen sich vor Ort einfach zusammenbasteln. Und seine Nutzung ist sicher: Die Kugeln werden nicht von Menschen, sondern vom Wind gesteuert.
Ein Mine Kafon misst etwa zwei Meter im Durchmesser und wiegt fast 80 Kilogramm, schwer genug, um Personenminen zur Explosion zu bringen, sagt Hassani. Prototypen wurden in der Wüste von Marokko getestet. Sie verloren bei jeder Explosion im Durchschnitt 25 ihrer 175 "Beine". "Jeder Mine Kafon konnte also theoretisch bis fünf, sechs Minen räumen."
Experten sind aber skeptisch. Laut dem Niederländische Explosieven Opruimings Dienst (EOD), dem Räumdienst der niederländischen Streitkräfte, ist der Mine Kafon in der heutigen Verfassung ungeeignet, um Minenfelder zu sichern. Die Resultate seien einfach zu ungewiss. So blieben die Prototypen bei schwereren Detonationen stecken.
Der Mine Kafon ist also noch keine Alternative für Minensuchhunde und menschliche Minenräumer. Allerdings könnte die Pusteblume für Aufklärungsarbeiten eingesetzt werden, sagt Major Henk van der Slik, Kommandant der EOD im Gespräch mit ZEIT ONLINE. "In Risikogebieten, wenn man nicht weiß, ob es dort Landminen gibt und die Menschen Angst haben, könnte man den Mine Kafon reinschicken. Kommt es zur Explosion, kann man von einem Minenfeld ausgehen, denn von Minen gibt es nie nur ein Exemplar."
"Wir sind vorsichtig damit, jede neue Technologie einzusetzen, ehe sie nicht eingehend getestet wurde und internationalen Standards genügt", sagt auch Adam Komorowski, ein Experte der Mines Advisory Group. Die Nichtregierungsorganisation räumt weltweit Minen in ehemaligen Konfliktregionen. Komorowski weiß, wie schwierig es ist, Minen sicher zu beseitigen. Der Mine Kafon sei ein "lobenswertes" Projekt. Seine Einsatzfähigkeit müsse er aber noch beweisen.
Das Wichtigste ist, dass es eine Debatte gibt: über Minen, und darüber, was sie anrichten.
Massoud Hassani, Erfinder
Massoud Hassani gibt sich damit nicht zufrieden. "Natürlich ist der Mine Kafon noch nicht zu 100 Prozent tauglich, aber wir arbeiten daran, bessere Resultate zu bekommen." Mit seinem Bruder Mahmud sammelte der niederländische Afghane über Crowdfunding in den vergangenen Wochen umgerechnet schon mehr als 130.000 Euro ein. "Mit dem Geld können wir unser Konzept weiterentwickeln, zusammen mit anderen Partnern." Er hofft, dass die deutsche Industrie sich für sein Projekt interessieren wird. "Dann würden holländische Kreativität, deutsche Ingenieurskunst und meine afghanische Erfahrung zusammenkommen," erzählt er und lächelt.
Mine Kafon
Mit geschätzten zehn Millionen Exemplaren ist Hassanis Heimat Afghanistan am schlimmsten mit Landminen und Blindgängern verseucht. Hassani will künftig mit neuen Prototypen nach Afghanistan reisen und über die Tests einen Dokumentarfilm drehen, um so Interesse zu wecken für das Schicksal von Minenopfern. Mit Ausstellungen, unter anderem in Paris und im Museum of Modern Art in New York, wird Hassani dieses Jahr seinen Entwurf einem internationalen Publikum vorstellen.
Auch wenn der Mine Kafon als alternativer Minenräumer vielleicht untauglich erscheint, ist Massoud Hassani zufrieden. "In kurzer Zeit hat unsere Website schon zwei Millionen Zugriffe bekommen. So einen Erfolg hatten wir nie erwartet. Das Wichtigste ist, dass es eine Debatte gibt: über Minen, und darüber, was sie anrichten."
Verschenen op: Die Zeit online